Eines Tages stand Caro in meiner Praxis, eine bildhübsche junge Frau Anfang 20, die stark unter ihren Gefühlsausbrüchen aller Art litt. Wo andere nur müde lächeln oder vielleicht auch mal aus der Haut fahren, sich aber wieder beruhigen, stürzte Caro von einer emotionalen Ausnahmesituation in die nächste. Um herauszufinden, ‚was mit ihr nicht stimmt‘, ließ sie mehrere Tests und Untersuchungen über sich ergehen, um schließlich die niederschmetternde Diagnose ‚emotional instabile Persönlichkeitsstörung des Borderline-Typs‘ zu erhalten. Man empfahl ihr, sich auf die Warteliste für eine störungsspezifische Therapie setzen zu lassen. Wartezeit unbestimmt. Doch Caro wollte nicht warten. Sie war bereits seit 6 Wochen krankgeschrieben und verlor sich jeden Tag mehr im Nichtstun. Und so kam es, dass ich ihre Nachricht auf meinem Anrufbeantworter hatte: „Hallo, ich bin Caro und ich bin eine Borderlinerin. Können sie mir bitte helfen?“. Ich rief sie zurück und erklärte ihr, dass ich zwar nicht speziell in der empfohlenen Therapieform ausgebildet sei, sie aber übergangsweise sicherlich begleiten könne. Und so begann eine engmaschige Therapie, bei der wir in zahlreichen Gesprächen ihre traumatischen Kindheitserfahrungen aufgearbeitet haben. Wir fanden gemeinsam heraus, welche Skills ihr helfen, ihre Impulse besser zu kontrollieren und welche Achtsamkeitsübungen für sie durchführbar sind. Wir erarbeiteten eine zu bewältigende Tagesstruktur und indem sie immer mehr über sich selbst lernte, baute sie ihren Selbstwert auf. Bei all dem beteuerte sie immer wieder, wie glücklich sie in ihrer Beziehung sei. Wie gut ihr dieser Mann täte. Welch tiefsinnige Gespräche und ausgelassene Momente sie teilen. Dass sie sich gegenseitig stärken und stützen.
Es gab für mich also keinen Grund, diese Beziehung kritisch zu hinterfragen. Und so kam es eines Tages, dass sie ihn zu einem Setting mitbrachte. Als ich die Tür aufmachte, standen beide tränenüberströmt vor mir, kaum fähig zu erzählen, was passiert ist. Erst als mein Hundemädchen Frieda schwanzwedelnd auf die beiden zulief und sich ihre Streicheleinheiten abholte, wurde die Stimmung besser. Irgendwann begann Marco von seinen eigenen seelischen Wunden zu erzählen und das, was ich zu hören bekam, waren schreckliche Erfahrungen, die kein Kind erleben sollte. Mir war also klar, dass vor mir ein zutiefst verletzter und gedemütigter junger Mann saß. Marco war gutaussehend, gepflegt, eloquent und auf den ersten Blick durchaus sympathisch. Ich bemerkte wie Caro ihn anhimmelte und horchte auf, als sie ihre eigene Meinung mehrmals korrigierte, um sich ihm zu fügen. Im weiteren Verlauf des Gesprächs erzählte Marco dann von seinem Job. Davon wie sehr sein Arbeitgeber von ihm profitiert, aber seinen Wert nicht zu schätzen weiß. Wie viele Zusatzaufgaben er übernimmt und wie wenig Dank er dafür erhält. Und schließlich gab er auch Einblicke in seine Sicht auf die Beziehung mit Caro. Und die war so gänzlich anders, wie von Caro immer berichtet. Ja, natürlich sei er immer für Caro da, nur sie eben leider nie für ihn. Immer würde sich nur alles um sie drehen, er selbst bekäme nie Aufmerksamkeit von ihr. Ständig würde sie ihm Vorwürfe machen, dabei könne sie froh sein, so jemanden wie ihn gefunden zu haben. Das alles sei sehr belastend für ihn. Schließlich würde er an allen Fronten gleichzeitig kämpfen, doch von niemandem Anerkennung und Respekt dafür bekommen.
Jeder Satz machte mich hellhöriger und ich bemerkte gleichzeitig, wie Caro in ihrem Sessel immer kleiner wurde und ihr die Verzweiflung förmlich aus den Augen sprang. Ich bekam eine Ahnung davon, was tatsächlich hinter all dem steckte. Jedenfalls hatte ich genug gehört, um das Gespräch, das sich hauptsächlich um Marco drehte, zu einem guten Ende zu führen und Caro bei unserem nächsten Setting direkt darauf anzusprechen. Kaum hatte ich meine erste Frage ausgesprochen, war er da, dieser Moment, den ich schon so einige Male erlebt hatte. Zuerst vor einigen Jahren bei mir selbst und später dann bei meinen Klientinnen. Der Moment, in dem man loslässt. In dem die mühsam aufrechterhaltene Maske bröckelt. In dem Sturzbäche von Verletzungen durch jede einzelne Pore hervorquillen. Der Moment, in dem aller Schmerz ins Bewusstsein dringt und sich ausbreitet. In dem es kein Verstecken vor dem eigenen Bauchgefühl mehr gibt. Und dann brach es aus Caro heraus. All der jahrelang ertragene Kummer, die Ungerechtigkeiten und Manipulationen. Sie erzählte von psychischer Gewalt und emotionalem Missbrauch ebenso wie von Handgreiflichkeiten, Würgen und Ausgesperrtwerden wenn sie nicht in seinem Sinne funktionierte. Davon, dass sie ihre Freundinnen nicht mehr treffen sollte und immer nur sehr kurz ihre Mutter besuchen durfte. Als Marco bemerkte, dass sie durch die Therapie bei mir ihren Selbstwert aufbaute, wollte er mich kennenlernen. Diejenige zur Rede stellen, die ihm in die Parade fuhr, denn in seinen Augen wurde Caro von Mal zu Mal aufsässiger. Und das konnte er natürlich nicht zulassen. Doch es kam anders.
Marco konnte der Versuchung nicht widerstehen, mir von seiner Großartigkeit und Generösität zu erzählen, und so kam ich ihm auf die Schliche. Wobei ich hier betonen möchte, dass ich nicht hinter jedem Menschen mit gewissen Verhaltensweisen einen Narzissten wittere. Trotzdem bin ich aufgrund meiner eigenen Erfahrungen und der Erzählungen meiner Klientinnen hinsichtlich krankhafter Selbstverliebtheit sehr feinfühlig. Und ich habe gelernt, dass sich Menschen am Ehesten öffnen, wenn sie sich sicher fühlen und keine Scham empfinden müssen. Also erzähle ich Auszüge meiner eigenen Geschichte. Die Reaktionen sind fast immer gleich und ich kann sie in den Gesichtern ablesen: ‚Ich bin nicht die Einzige, der das passiert?!‘, ‚Gibt es wirklich einen Ausweg?‘, ‚Wenn selbst ihr das passiert ist, brauche ich mich nicht zu schämen, dass es mir auch passiert ist.‘.
So war es auch bei Caro. Nachdem ich einige meiner Erfahrungen mit ihr geteilt und sie gefragt habe, ob sie sich vielleicht darin wiedererkennt, wurde sie mutig. Dabei durfte ich nicht vergessen, dass Caro unter einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung leidet. Diese bringt neben Impulskontrollstörungen, schwarz-weiß-Denken und einigem mehr auch die übermächtige Angst vor dem Verlassenwerden mit sich. Marco hatte also leichtes Spiel bei ihr, denn er drohte ständig damit, sie zu verlassen, wenn sie sich ihm nicht fügt. Und jetzt ergab alles einen Sinn. Die Gründe für ihre regelmäßigen Gefühlsausbrüche waren nicht ausschließlich ihre Tolpatschigkeit, ihre Ungeduld oder ihre Vergesslichkeit. Nein, vielmehr war es Marco, der sie durch seine Manipulationen ganz bewusst triggerte, um ihr dann zu sagen, dass nur er und kein anderer es mit ihr aushalten würde. Keine Freunde, keine Familie. Keine Kollegen. Nur er.
Wir tasteten uns langsam an das Thema emotionaler und psychischer Missbrauch heran. Mit jeder neuen Erkenntnis wurde Caro stärker. Sie nutzte die Zeit, als Marco mehrere Wochen auf Montage war, um sich emotional zu lösen und das Schloss an ihrer Wohnungstür auszutauschen, für das er einen Schlüssel hatte. Als er darauf bestand, dass sie ihn übers Wochenende besuchte, glaubte sie, stark genug zu sein, um sich dort von ihm zu trennen. Doch sie unterschätzte die Macht der Manipulation, der sie sich wieder aussetzte. Marco nutzte die 3 Tage, um sie abwechselnd in Vorwürfen zu ertränken und ihr dann den Rettungsring seiner großzügigen Liebe zuzuwerfen. Er riss ihre Wunden auf, schüttete Salz hinein und klebte dann ein Pflaster darüber nur um gleich wieder von vorne zu beginnen. Als Caro sonntags auf dem Heimweg war, rief sie mich völlig verzweifelt an und erzählte mir, was passiert war. Alle unkontrollierbaren Impulse brachen über sie herein und sie wusste nicht, wen sie mehr hasste: sich selbst oder Marco. Nachdem sie sich beruhigt hatte, sah sie klarer und war wieder aufnahmefähig. In den darauffolgenden Wochen, lernte sie sowohl sich als auch Marco besser zu verstehen. Wir besprachen die Auslöser, die Marco zu dem machten, der er heute ist und sie verstand, dass er sich nicht bewusst zum Narzissten entwickelt hat, sondern dass es eine Flucht war. Die für ihn einzige Lösung, um nicht an seiner schlimmen Kindheit zu zerbrechen: ‚Wenn mich niemand liebt, wenn ich für keinen sichtbar bin, wenn sich niemand um mich kümmert, dann muss ich mich eben selbst über alle Maßen lieben und sichtbar machen.‘.
Dieser Ansatz hat sich dermaßen manifestiert, dass er in Marcos Wesen überging, zu seiner Persönlichkeit wurde. Völlig unbemerkt und unbewusst. Das hat dazu geführt, dass er sich selbst als genau richtig empfindet. Für ihn sind alle anderen die Fehler in seinem System. Dass sich seine Welt nur um ihn dreht, ist für ihn selbstverständlich. Und auch wenn es schwer fällt, ist es wichtig zu verstehen, dass hinter all den Allmachtsfantasien, Manipulationen etc. ein gebrochener Mensch steht, der in Wirklichkeit kaum einen Funken Selbstwert verspürt. Der aber eben leider dieses Defizit mit den falschen Mitteln überspielt.
Nachdem Caro das verstanden hatte und ihm wie auch sich selbst vergeben konnte, ging alles ganz schnell. Sie meldete sich bei ihren alten Freunden wieder und sprach sich mit ihrer Familie aus. Mit diesen Unterstützern im Rücken hatte sie die Kraft, sich von Marco zu trennen. Auf seine Beleidigungen und Drohungen war sie vorbereitet und so verlor er jegliche Macht über sie. Eine ganze Weile noch versuchte er Caro bei anderen schlecht zu machen und sich als Opfer darzustellen. Er lauerte ihr auf, doch sie war nie allein. Er rief sie an, sie legte sich eine neue Handynummer zu. Und so erkämpfte sich Caro Stück für Stück ihre Würde und ihren Stolz zurück.
Und je mehr Selbstbestimmung in Caros Leben zurückkam, desto seltener wurden die unkontrollierbaren Gefühlsausbrüche. Je stabiler ihre Gefühlswelt, desto strukturierter ihr Tag. Je mehr Struktur, desto größer die Motivation. Sie lernte, Borderline nicht als Fluch, sondern als Segen anzunehmen und so gut es geht damit zu leben. Wir besprachen, dass übermäßige Gefühle richtig eingesetzt durchaus Vorteile haben. Vorteile, die nicht-Borderliner so niemals kennenlernen werden. Die BPS bringt viel Leid mit sich, nicht nur durch impulsive Gefühlsausbrüche, und Caro hat großes Glück, dass viele Symptome nicht oder nur sehr leicht bei ihr auftreten. Irgendwann war sie soweit, das sie sich zutraute ihr Leben allein zu meistern. Wir sehen uns trotzdem regelmäßig und bei unserem letzten Spaziergang erzählte sie mir, dass sie einen neuen Job gefunden hat, der genau ihren Vorstellungen und Bedürfnissen entspricht. Und dass sie begonnen hat, zu singen und gerade an ihrem ersten eigenen Song schreibt. Und dass sie einen Mann kennengelernt hat, der ihr wirklich gut tut. Der sie unterstützt, ohne jegliche Vorwürfe. Der ihr Halt gibt ohne sie zu halten. Der mit ihr Pläne schmiedet und dabei auf ihre Wünsche eingeht. Ja, der sie einfach glücklich macht.
Ich freue mich unendlich für Caro, sie hat es sowas von verdient! Und ich bin sehr stolz auf sie, denn sie hatte den Mut, sich einmal anders zu entscheiden. Sie hat ihr Muster durchbrochen und sich gelöst, um sich zu entwickeln. Wo ich bei unserer ersten Begegnung noch eine durch und durch verzweifelte Person gesehen habe, blicke ich jetzt in das Gesicht einer echten Persönlichkeit.
UNFOLD YOURSELF – von der Person zur Persönlichkeit